Psychagoge: „Von mir kriegt Videodolmetschen die Goldmedaille“
„Psycha…was“? Hört man das Wort Psychagoge zum ersten Mal, fragt man sich womöglich zunächst, ob man sich verhört hat. Wir haben mit dem Wiener Psychagogen Christoph Pawel über dieses Berufsfeld und den Einsatz von Videodolmetschen an Schulen gesprochen.
Viele Menschen wundern sich, wenn sie das Wort „Psychagoge“ hören und meinen, dass man sich vielleicht versprochen hätte. „Tatsächlich ist das Wort eine Mischung aus dem Wort Pädagoge und Psychologe“, erklärt der ausgebildete Volksschullehrer und Psychagoge Christoph Pawel. Seit über 40 Jahren gibt es an Wiener Schulen Psychagog*innen und Beratungslehrer*innen. Sie unterstützen Schüler und Schülerinnen mit emotionalen und sozialen Problemen, helfen z.B. bei Schulangst oder Verhaltensauffälligkeiten.
Die Betreuung findet laut Christoph Pawel meist einzeln statt. „Bei mir haben die Kinder einen geschützten Raum, in dem sie ihre Gefühle ausdrücken können. Meine Aufgabe ist, sie zu beobachten und zu ergründen, was in ihnen vorgeht“, erklärt er.
Reden und Spielen
Die Gründe, warum ein Kind in seine Beratung kommt, seien vielfältig. Die Palette reiche von Kindern, die aggressiv werden über Kinder, die nicht ruhig sitzen können bis hin zu ganz ruhigen Kindern, die sich völlig zurückziehen.
In der Regel sind es die Klassenlehrer*innen, die eine Beratung anregen. Dafür ist einerseits das Einverständnis der Eltern sowie ein Vorgespräch mit ihnen wichtig, „um ein vollständiges Bild zu bekommen“, meint der Psychagoge. Denn ein Kind könne zwar in der Schule sehr ruhig und schüchtern sein, in der Familie aber „aufdrehen“. Diese Eindrücke gilt es vorab abzuklären. Die Betreuung ist meist längerfristig und erstreckt sich etwa bis zum Ende eines Schuljahres. „Ich habe ja keinen Zauberstab, auch wenn sich manche wünsche würden, dass es wie bei der Autoreparatur ist: Abgeben und reparieren“, erzählt Pawel.
Was der Psychagoge in der Stunde mit den Kindern macht, hängt vom Alter, dem Charakter und den Vorlieben des Kindes ab. Während Jugendliche in Neuen Mittelschulen eher reden wollen, suchen sich Volksschulkinder oft eines der vielen Spiele in Pawels Raum aus. „Dabei ist es mir immer wichtig zu betonen, dass das keine Spielstunde ist und wir hier miteinander arbeiten“, schmunzelt der Psychagoge.
Umgang mit Gefühlen
Beim Spielen achte er darauf, wie das Kind in Beziehung zu ihm gehe und etwa mit Gewinnen und Verlieren umgeht. Kinder und Jugendliche äußern Frust und Zorn häufig nach außen hin, werden etwa aggressiv oder richten Gefühle im Gegenteil gegen sich, verletzten sich selbst oder entwickeln eine Essstörung.
Die Themen, die die Kinder und Jugendlichen belasten, reichen von (psychisch) kranken Elternteilen oder Geschwistern, Scheidungen über Sterbefälle in der Familie bis hin zu häuslicher Gewalt. Seit der Flüchtlingsbewegung 2015 begegnen ihm darüber hinaus Schilderungen traumatisierter Kinder aus Kriegsgebieten. „Ein Bub musste seinen älteren Bruder, mit dem er in einem Schlauchboot nach Griechenland wollte, ertrinken sehen“, erinnert sich Christoph Pawel. Diese Erzählungen, „die ich sonst nur aus dem Fernsehen kannte, ziehen einem schon den Boden unter den Füßen weg“.
„Bin der größte Fan von Videodolmetschen“
Da der Austausch mit den Eltern so wichtig sei, ist Christoph Pawel „der größte Fan von Videodolmetschen“. Eine große Hilfe waren vor dem Einsatz von Videodolmetschen Muttersprachen-Lehrkräfte, die etwa Arabisch, Tschetschenisch oder Serbokroatisch sprechen und bei Elterngesprächen unterstützt hätten. Dennoch sei diese Praxis suboptimal gewesen, denn „sie hätten die Zeit ja zum Unterrichten gebraucht“.
Bei den ausgebildeten Dolmetscher*innen, die per Video zugeschalten sind, merke man außerdem einen „Riesenunterschied“. „Die Videodolmetscherin, überträgt das was ich gesagt habe“, sagt Pawel und fügt hinzu, „Die Muttersprachenlehrerinnen wussten viel über das Kind, haben ihre eigene Sichtweise eingebracht und viel länger geredet“.
Manche seiner Kolleg*innen an Schulen sind nicht ganz so begeistert wie er und vor allem aufgrund der Technik skeptisch. „Ich führe aber häufig Elterngespräche gemeinsam mit Lehrer*innen und Videodolmetscher*innen und die sehen dann, wie gut es funktioniert“, sagt Pawel und fügt lächelnd hinzu „Von mir kriegt Videodolmetschen jedenfalls die Goldmedaille“.
(Judith Moser, 07.04.2022)
Seit April 2021 gibt es an Österreichs Schulen das Projekt „Wir verstehen uns“ des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung, das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert wird. Die Nutzung von Video- bzw. Telefondolmetschen soll die Arbeit von Pädagog*innen erleichtern.