Dr. Stephan Gremmel: „Wenn man sich Zeit nimmt und den Menschen zuwendet, ist viel möglich.“

Sich hinwenden, zuhören und Anliegen verständlich ausdrücken funktioniert am besten in der Erstsprache, insbesondere bei Krankheit und in Notsituationen. Stephan Gremmel, der ärztliche Leiter des neunerhaus Gesundheitszentrums, war einer der ersten Befürworter von Videodolmetschen im Gesundheitswesen. Er sprach mit uns über das Potential der Menschen, den Arbeitsalltag in einer Sozialorganisation für obdach- und wohnungslose Menschen und über den Einsatz von Videodolmetschen.

Foto: (c) Christoph Liebentritt | photography

Wie ist es dazu gekommen, dass du bei neunerhaus zu arbeiten begonnen hast?

Das Gesundheitssystem in Österreich ist zwar sehr gut, aber es gibt dennoch viele Menschen, die überbleiben. Das hat mich motiviert, in diesem Bereich tätig zu werden. Gleich nach meiner Ausbildung landete ich bei neunerhaus.  Es war mein erster Job.

Welche Erfahrungen haben sich von deinen Anfängen bei neunerhaus besonders eingeprägt?

Gewisse Fälle bleiben stärker in Erinnerung, etwa meine erste Patientin in der Ordination für nicht versicherte Menschen: Eine junge obdachlose drogenabhängige Frau, die offene Wunden an beiden Beinen von der Leiste bis zum Knöchel hatte. Das war für mich damals ein sehr dramatisches Bild. Man bekam den Eindruck, das könne nie wieder gut werden. Die Frau wurde dann aber langfristig versorgt. Das zeigt, dass vieles möglich ist, wenn man das Vertrauen der Menschen gewinnt.

Wer kommt ins neunerhaus?

Viele unserer Nutzer*innen stammen aus sozial prekären Verhältnissen oder haben keine familiäre Unterstützung. Aber es kann jede*n treffen. Ich erinnere mich etwa an einen erfolgreichen Geschäftsmann mit mehreren Hotels im Ausland. Aufgrund einer Spielsucht verlor er sein Geld und auch die Beziehung ging in die Brüche. Da er lange im Ausland lebte, hatte er hier in seinem Heimatland Österreich keine Versicherungsansprüche. So landete er bei uns.

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Wie sieht der Arbeitsalltag im neunerhaus Gesundheitszentrum aus?

Das Besondere an neunerhaus ist, dass hier viele Berufsgruppen zusammenarbeiten, und alle ziehen am gleichen Strang. Wir haben viele interdisziplinäre Beratungsgespräche, die sich als sehr wirksam erwiesen haben. Viele Menschen haben nämlich mehrere „Baustellen“ gleichzeitig: neben diversen medizinischen Problemen kämpfen sie mit Existenzängsten, Wohnungsverlust, drohender Delogierung, Obdachlosigkeit, fehlendem Einkommen, sind versicherungslos oder haben einen unklaren Aufenthaltsstatus. Das blockiert sich gegenseitig. Deshalb kann ich als Arzt gemeinsam mit einer Pflegekraft oder einem*r Sozialarbeiter*in gemeinsam entscheiden, was am dringlichsten ist.

Gibt es medizinische Probleme, mit denen ihr häufiger konfrontiert seid als andere allgemeinmedizinische Ordinationen?

Wir haben grundsätzlich alles: von Husten, Schnupfen, Heiserkeit über Diabetes bis hin zu fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Manche Dinge sehen wir aber sicherlich öfter, wie chronische Wunden an den Beinen, psychiatrische Erkrankungen, Sucht und Abhängigkeit. Hinzu kommt, dass aufgrund von fehlenden Möglichkeiten zur Körperhygiene Wunden schlechter heilen und sich bei Grunderkrankungen wie Diabetes keine Verbesserung zeigt.

Wer sind die Menschen, die zu euch kommen und nicht oder nur wenig Deutsch sprechen? 

Häufig stammen die Menschen aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Polen oder der Slowakei. Die meisten Menschen sind hier auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie versuchen sich eine Existenz aufzubauen, wollen arbeiten und Geld verdienen. Oft landen sie jedoch in prekären Situationen ohne Kranken- und Sozialversicherung. Bei einem Unfall auf der Baustelle stellt sich dann heraus, dass der Arbeitgeber sie nicht angemeldet hat und der Versicherungsschutz nicht aktiv ist.

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neunerhaus war eine der ersten Einrichtungen in Österreich, die in der medizinischen Versorgung Videodolmetschen bei Gesprächen mit nicht deutschsprachigen Personen einsetzt. Wie hat der Einsatz von professionellen Dolmetscher*innen euren Arbeitsalltag verändert?

Seit ich bei neunerhaus als Arzt tätig bin, wird Videodolmetschen eingesetzt. Ich habe das von Anfang stark genutzt und auch intern forciert. Ich kenne Sprachbarrieren aus meiner Ausbildung, vor allem in Notaufnahmen, aber auch im stationären Bereich. Dort werden dann häufig Reinigungspersonal oder Familienmitglieder für Dolmetschungen herangezogen; oft auch Kinder, die selbst in einer emotionalen Stresssituation sind. Ohne professionelle Dolmetschung funktioniert die Kommunikation aber einfach nicht.

Wie motivierst du deine Kolleg*innen dazu, Videodolmetschen einzusetzen?

Manche Kolleg*innen scheuen die technischen Hürden oder haben Sorge, dass Gespräche durch den Einsatz von Dolmetscher*innen länger dauern. Ich entkräfte das immer, denn es ist gut investierte Zeit. Lieber eine halbe Stunde Videodolmetschen als der Patient kommt jeden Tag wieder und ich muss fünf Mal das Gleiche erklären, weil der Patient noch nicht verstanden hat, was ich ihm sagen wollte. Zudem ist die Nutzung völlig unkompliziert: Wir haben das System auf jedem Arbeitsplatz: beim Empfang, bei den Sozialarbeiter*innen und bei der medizinischen Beratung. Wir nutzen auch Tablets für Begleitungen in Krankenhäuser oder Ordinationen, wo es keine Dolmetscher*innen gibt. Ich merke, dass das dazu beiträgt, dass es langsam ein Umdenken gibt. Eines unserer Kooperationsspitäler nutzt das Angebot mittlerweile selbst und viele überlegen. Manchmal muss man wohl einfach zeigen, wie gut etwas funktioniert.

Welche Unterschiede springen dir bei gedolmetschten Gesprächen sofort ins Auge?

Das sind ganz klar die unterschiedlich langen Höflichkeitsfloskeln bei Begrüßung und Verabschiedung. Ich habe außerdem immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen unglaublich froh sind, endlich jemanden zu haben, der oder die sie versteht.  Am eindringlichsten in Erinnerung geblieben ist mir beim Videodolmetschen aber der Fall eines jungen Mannes, der sich aufgrund einer sehr bewegenden Fluchtgeschichte und Foltererfahrung in einem psychisch sehr belasteten Zustand befand. Über einen längeren Zeitraum gelang es, ihn zu stabilisieren. Er wurde psychotherapeutisch bei Hemayat angebunden sowie medizinisch und sozialarbeiterisch unterstützt. Mittlerweile ist er versichert, berufstätig, verheiratet und Vater eines Kindes. Das sind Geschichten, die in Erinnerung bleiben und an denen man sieht, dass das Potential der Menschen nicht zu unterschätzen ist: Wenn man sich Zeit nimmt und sich den Menschen zuwendet, ist ganz viel möglich.

Vielen Dank für das Gespräch.

Foto: (c) Christoph Liebentritt | photography





Dr. Stephan Gremmel (38) wollte eigentlich einen anderen Weg einschlagen als seine Eltern und sein Bruder: Er wollte Lehrer werden. Durch Erfahrungen während seines Zivildiensts in einem Kinderheim in Guatemala fand er jedoch doch den Weg zurück in die Medizin. Er promovierte 2010 in Wien, ist seit 2015 im medizinischen Dienst von neunerhaus tätig und seit 2016 ärztlicher Leiter des neunerhaus Gesundheitszentrums in Wien Margareten.

neunerhaus ist eine 1999 gegründete Sozialorganisation, die obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben mit medizinischer Versorgung, Wohnen und Beratung ermöglicht. Eine Bürger*inneninitiative setzte sich damals zum Ziel, obdach- und wohnungslose Menschen rund um den Wiener Franz-Josefs-Bahnhof eine selbstbestimmte Wohnform zu geben. Es handelte sich um Vorreiterprojekt, das erstmals die Mitnahme von Haustieren ermöglichte, was in den meisten anderen Häusern nicht erlaubt war. Obdachlose Menschen haben sich oft deshalb nicht in eine gesicherte Wohnform begeben, weil sie sich nicht von ihren Tieren trennen wollten. Geplant hatte man die Einrichtung im 9. Bezirk, daher auch der Name neunerhaus, letztlich wurde man aber im 3. Bezirk fündig. Daraus haben sich mittlerweile drei Wohnhäuser sowie eine Vielzahl an medizinischen und sozialarbeiterischen Angeboten für obdach- und wohnungslose Menschen entwickelt. Im ersten Corona-Lockdown 2020 hatte das neunerhaus Gesundheitszentrum – im Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen durchgehend geöffnet. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage mussten deshalb sogar weitere Mitarbeiter*innen eingestellt werden.